
Das Kammerkonzert der Mitglieder des RSB “Klassik im Kühlhaus“ am 06.04.17 stellte ein ganz typisches Berliner Erlebnis dar: Junge und außerordentlich gute Musiker spielen ungewöhnliche Stücke in außergewöhnlichem Ambiente vor entspannten Zuschauern, die während des Konzertes gelegentlich an ihren Weingläser nippen. Jede Trennung zwischen Spielern und Publikum ist aufgehoben,; die volle Beteiligung aller Anwesenden lässt das Konzert wieder zu einem jungen und lebendigen Ritus werden, wie er in anderen Metropolen bisweilen kaum zu finden ist. In diesem Fall wurde die Distanz noch geringer durch die Anwesenheit eines Moderators, Volker Wieprecht, der mit Witz und Intelligenz keine seriöse musikwissenschaftliche Einführung präsentierte, sondern mit dem Publikum interagierte. Mit seinen Rundfragen an die Musiker über ihre Beziehung mit den Stücken zielte er mal auf die technische Seite mal auf die unmittelbare Wirkung der aufgeführten Stücken und schuf er damit eine Brücke zwischen Zuschauern und Musik.
Das Programm bot eine besondere Zeitreise in die Welt des Streichsextetts. Theoretisch ging Reise rückwärts, vom Streichsextett aus Capriccio von Strauss (1942) über das selten aufgeführte Streichsextett Schulhoffs (1924) bis zum Souvenir de Florence (1892) Tschaikwowskis. Paradoxerweise klang aber das schöne Spätwerk von Strauss, mit ihrem bewussten Rückgriff auf Rokoko-Idiome, als völlig aus der Zeit gefallen, wobei das expressionistische Jugendwerk Schulhoffs als das modernste Werk des Abends wirkte und das romantische Spätwerk Tschaikowskis eine kräftige Mittelstufe bildete.

Es war sehr spannend, das Streichsextett aus Capriccio einmal außerhalb der Oper hören zu können. In der Oper hat man stets den Eindruck, dass das ganze Sextett vor der Eröffnung des Vorhangs gespielt wird, und was man später entfernt in der 1. Szene der Oper noch hört, eine Art Wiederholung des Stückes ist. Es ist entzückend wahrzunehmen, wie beide Teile (das, was vor dem geschlossenen Vorhang und was danach der Bühne gespielt wird) zusammen eine perfekt kohärente Einheit bilden, so dass dieses Kammerstück auch völlig selbständig aufgeführt werden kann. Da die Streicher nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen waren, wurde es besonders auffällig, dass die erste Geige stets die Stimmenführung behält, wobei die anderen Instrumente nur gelegentlich mit Imitationen als selbständig auftauchten. So ein Verfahren verweist gewiss auf einen Musikstil der Zeit noch vor Mozart – genau die Zeit, bei der die Handlung der Oper spielt. Die musikalischen Seufzer, die als gelegentlichen Schattierungen hier und da das Bild färbten, sowie die quasi irreale wirkende Einheit des Klanges – das alles drückt eine sehr intime Sehnsucht nach einer verlorenen, idyllischen Zeit aus. Denn die wahre Welt wurde 1942 immer finsterer.
Die wunderschöne Unzeitmäßigkeit des Streichsextetts von Strauss bildete einen starken Kontrast zu der expressionistischen Welt des Streichsextetts von Schulhoff. Für Kenner von Schulhoffs Werk ist dieses Sextett eine besondere Delikatesse. Der junge Komponist scheint in diesem Stück auf der Suche seines eigenen Stils zu sein. Der erste Satz, 1919 unmittelbar nach der traumatischen Erfahrung des 1. Weltkrieges komponiert, kreist stilistisch um die Zweite Wiener Schule – dies nicht nur wegen der atonalen Musiksprache. Kräftige Geste, Musikschreie, Risse, Ostinato-Rhythmen – das ganze musikalische Material wird verwendet, um auf der möglich unmittelbarsten Weise das Seelenrütteln darzustellen. In den plötzlichen ruhigen Teilen brennen leise Figuren der Geigen fast wie entferntes Flammenlicht. Auf einer zweiten musikalischen Ebene wird auch die Form zerrissen. Trotz einer Art Reprise wirkt der Satz gar nicht abgerundet; die Gesten löschen sich ins Nichts und in eine Stimmung von Unvollkommenheit. So direkt drückte sich Schulhoff musikalisch nur sehr selten aus. Dieser Satz ist gar nicht leicht zu spielen, aber die RSB-Mitglieder haben es geschafft, ihn hervorragend zu meistern. Die anderen Sätze wurden vier Jahre später komponiert; sie entwickeln aber weiter die blasse Stimmung des 1. Satzes – nur mit anderen musikalischen Mitteln. Das total finstere erste Adagio bewegt sich in einem statischen, harmonischen Raum mit langen Liegetönen der Celli und leisen, absteigenden Figuren der anderen Streicher, als hätten sich die Feuer des ersten Satzes in einen Ascheregen verwandelt. Eine Glut brennt noch hier und da in dieser blassen Landschaft, die einerseits die Verwüstung von Schostakowitschs 8. Streichquartett quasi vorwegnimmt, andererseits auch an spätere, ebenso schwebende Landschaften aus Schulhoffs einziger Oper Flammen erinnert. Das furiose Scherzo geht noch ein Schritt weiter in die Richtung des späteren Stils des Komponisten: Es taucht endlich eine bestimmte rhythmisch-melodische Figur auf und der Ton, obwohl wütend und erbittert, zeigt gelichzeitig durch eine leicht groteske Färbung eine gewisse Distanz. Groteske Färbung und melodische Erfindung blieben dem Komponisten eigen bis zu seinem letzten vollendeten Werk, die Symphonie Nr.6 „Freiheit“ (1940/41). Der groteske Anfang des letzten Satzes vom Streichsextett klingt in diesem Sinn unverwechselbar nach Schulhoff. Umso überraschender, wie diese erreichte Distanz plötzlich verlischt und in ein fürchterlich trostloses Finale pianissimo und morendo mündet. Das von den RSB-Mitgliedern gespielte morendo grenzte tatsächlich an etwas Unhörbares. Das ganze Publikum blieb ohne Atem. Ein großartiges Stück!
Zum Schluss gab es das einzige (fast) Repertoire-Stück des Abends, Tschaikowskys Souvenir de Florence, 1892 gleich nach seinem Rückkehr von Florenz komponiert. Der Titel von diesem Sextett ist Merwürdig: Auch wenn die warme Melodik des zweiten Satzes wohl die Magie einer florentinischen Sommernacht darstellen könnte, klingen die letzten zwei Sätze unverwechselbar russisch. Was hat das Stück denn mit Italien zu tun? Es lässt sich an Andrej Tarkowskys Film Nostalghia denken, der zwischen der Toskana und Rom spielt. Der russische Protagonist is während seines italienischen Aufenthaltes von einer vernichtenden Sehnsucht nach seiner Heimat und seiner Familie verschlungen, so dass die italienische Landschaft immer wieder die Färbung einer russischen Landschaft nimmt. Vielleicht lässt sich das Werk von Tschaikowsky auch auf eine ähnliche weise interpretieren. So würde sich der Komponist hier seiner Sehnsucht nach die Heimat erinnern, wie er sie in Italien erlebt hat. Das ist genau das Gegenteil von dem, was normalerweise den deutschen Künstler bei ihren realen wie fiktiven Reisen nach Italien passierte. In ihnen erweckt sich die Sehnsucht nach einer mythischen mediterranen Landschaft, die fast als verlorene Heimat gefühlt wird. Bei den Russen scheint diese verlorene Heimat doch weiterhin Russland zu sein. Wahrscheinlich genau wegen dieser unbegrenzten Liebeserklärung zur Heimat gilt dieses Stück als besonders sentimental. Man merkt, besonders im 1. Satz, dass viele Passagen auch als musikmalerische Darstellungen gespielt werden könnten: Da würde dann eine wiederkehrende Figur der Geigen wie Blätterrauschen im Wind klingen, dort dieser Flug des Cellos wie ein Flügelschlag eines unsichtbaren Vogels, und diese wiegende Melodie wie ein entferntes Lied in der Nacht. Die gewählte Interpretation der RSB-Spieler war allerdings eher im Zeichen von Klassizität stehend, völlig anders. Auch der sentimentale Schwung wurde nicht übertrieben wiedergegeben. Wie schon Debussy meinte, sollten Gefühle auf die natürlichste Weise aus dem Wesen der Musik entspringen, nicht künstlich heraufbeschworen werden. Aber, wenn auch der 1. Satz in dieser Weise vielleicht abstrakter als erwartet klang, stimmte er danach perfekt mit dem Finale incl. Fuge überein. Die Gesamtwirkung war lichtvoll, mächtig und auch befreiend, nach der angstvollen Dunkelheit des Sextetts von Schulhoff. Am Ende Stürmischer Applaus!
Weiteren Beiträge über das Konzert sind auf Klangraum K, dem offiziellen Blog des RSB, sowie auf der Facebook-Seite des RSB zu finden.
Das Sextett von Schulhoff kann (in eienr anderen Einspielung) auf der ARD-Mediathek gehört werden.