

6. März – Prokofjew: Verlobung im Kloster – Mariinsky I
Die Oper, mit der Prokofjew die Anklage von Formalismus verdiente, ist entzückend und nimmt die Stimmung und auch den Stil seiner 5. Symphonie vorweg. Man kann nicht verstehen, wie surreal das Finale wirkt, bis man es auf der Bühne sieht. Die eher traditionelle aber sehr intelligente Inszenierung war äußerst abwechslungsreich, mit einer absichtlich übertriebenen spanischen Färbung, die der allgemeinen leichten Stimmung noch einen Hauch von Traum hinzufügte.
Der Dirigent wäre nach der Internet-Seite des Theaters Gergiev sein sollte, am Pult gab es aber Pavel Smelkov. Der mir anfangs völlig unbekannte Kapellmeister war am Ende der Woche eine vertraute Figur geworden, da er fast jeden Tag etwas anderes dirigierte – und zwar auch gut, muss man hinzufügen. Die musikalische Qualität der Mariinsky-Produktionen ist meistens hervorragend: sehr gute Sänger, ein phantastischer Chor, ein glänzendes Orchester. Dazu ist die Akustik in beiden Theater sehr gut, obwohl in Mariinsky I die Streicher ein bisschen gedämpft klingen. Man muss trotzdem sehr gut beachten, wo man sitzt, und das aus anderen Gründen…
(Wir saßen im Parkett im labyrinthischen Mariinsky Theater I. Eine Reihe hinter uns saßen drei Damen die während der ersten zwei Akten kontinuierlich sprachen und Selfies und Fotos machten. Ich dachte: „Die sind sicher Touristinnen“. Sie verschwanden tatsächlich nach der ersten Pause. Danach war aber aus der Galerie ein Junge laut zu hören… Überall gab es dazu Leute, die Fotos und Videos machten. Auch Touristen?)

7. März – Mussorgsky: Chowantschina – Mariinsky II
Diese Produktion war mir schon aus einem VHS der 90er Jahren bekannt, damals mit Gergiev am Pult. Es ist die Wiederbelebung einer noch älteren Inszenierung der 60er Jahren – wahrscheinlich schon damals mit der Instrumentierung von Schostakowitsch der unvollendeten Partitur von Mussorgsky verbunden. Das Video ist aber dieser Inszenierung nicht völlig gerecht. Die Bühnenbilder sind viel größer und vielfältiger, als man im Video sehen konnte, dazu wirkt live die ganze Regie viel lebendiger und konsequenter als im Video. Die Ähnlichkeit dieses Werkes mit dem Grand-Opéra-Begriff war so gut wahrzunehmen, sowie die allgemeine Großartigkeit des Konzeptes, mit vielen Massenszenen, eine Menge verschiedenen Figuren und sogar einem Ballett. Darüber hinaus wurde danke der traditionellen Inszenierung wenigstens der Kern der Handlung endlich verständlich – wenn nicht die Handlung selbst, was bei Chowantschina nahezu unmöglich ist… Die Gegenübersetzung zwischen alte und neue Mächte, die bei neueren Inszenierungen meistens völlig verloren geht, war hier optisch völlig klar dargestellt. Dazu wirkt in Sankt Petersburg das (nicht im Libretto vorgesehene) Auftreten von Peter der Größe selbst auf der Bühne am Ende des 4. Aktes besonders kräftig – nachdem man Abbildungen von ihm überall in der von ihm grundierten Stadt gesehen hat.
Chor und Sänger waren sensationell; unser Freund Pavel Smelkov hat sehr gut dirigiert, auch wenn nicht mit derselben Intensität von Gergiev. Nach einer Durchsage vor dem Anfang der Aufführung war ein der Sänger krank – vielleicht darum fiel es im 3. Akt die Szene mit Kuska vollständig aus…
(Wir hatten sehr gute, zentrale Plätze im 2. Rang – d.h., die wären in irgendeinem anderen Theater gut gewesen, in Mariinsky II war es dort die Hölle. Leute, die bis 20 Minuten später ankamen, sich direkt in der Dunkelheit zu ihrem Platz begaben, oder sonst Damen ringsum, die ständig die Taschen auf und zu machten, miteinander sprachen, telefonierten, Fotos bzw. Videos machten – alles das gab es dort und noch mehr… )

8. März – Tschaikowsky: Eugen Onegin – Mariinsky II
Diese total langweilige Produktion hatte den großen Vorteil, mir zu bestätigen, wie gut doch die aktuelle Produktion dieser Oper an der Komischen Oper Berlin ist. Als kleines Beispiel kann man die Briefszene in beiden Inszenierungen vergleichen. Kosky: Die ganze Nacht lang sucht Tatiana in ihren Büchern nach passenden Passagen und sammelt sie zusammen; sie steckt dann alles in einem Marmeladenglas und lässt am Sonnenaufgang das Glas Eugen bringen. Sie bleibt auf der Bühne und wartet mit fieberartiger Angst, bis Eugen mit seiner kalten Antwort kommt und ihr das Glas zurückgibt. Stepaniuk: Tatiana lässt sich Papier, Feder und Tintenfass bringen, lässt sie doch auf dem Tisch liegen und singt ihr ganzes Stück vorne, einfach hier und da auf der Bühne gehend. Sie schreibt dann ein paar Zeilen rasch und gibt den Brief einem Diener. Bühnenbildwechsel: Tatiana wartet in ihrem Zimmer. Eugen kommt vorbei und gibt ihr den Brief zurück. In der Inszenierung von Kosky sind auf einmal die Naivität und die fast unerträgliche Spannung von Tatiana klar dargestellt; in der Inszenierung von Stepaniuk ist dagegen alles so platt wie möglich wiedergeben. Man schweigt dann lieber von den peinlichen, übertriebenen Tanzszenen. Die einzige witzige Szene war das surreale Couplet von Monsieur Triquet. Es war übrigens lustig aus den Obertiteln zu entdecken, dass Monsieur Triquet auf Russisch mit einem schweren französischen Akzent singt – was man bei den Untertiteln der Komischen Oper Berlin völlig verpasst.
Auch diesmal war Gergiev nicht da. Im perfekten Einklang mit der Inszenierung hat der Ersatzdirigent Zaurbek Gugkaev sein Bestes gegeben, um so langweilig und ausdrucklos wie möglich zu dirigieren.

9. März – Weinberg: Der Idiot – Mariinsky Konzertsaal
Die Premiere der vollständigen Fassung dieser 1987 komponierten Oper von Weinberg fand komischerweise erst 2013 im Nationaltheater Mannheim statt. Ein sozusagen zweiter Premiere folgte zwei Jahre später in Oldenburg. Ich konnte diese zweite Produktion besuchen und blieb total fasziniert, obwohl die Partitur offenbar zu kompliziert für das oldenburgische Orchester war. Integral dauert die Oper 3:30 Stunden ca. Dagegen wird es in Russland ab und zu eine Kurzfassung der Oper gespielt, die 30 Minuten kürzer ist (also immer noch ziemlich lang, doch). Ich hätte gerne diese halbszenische Produktion gesehen, sollte aber bei der Pause entfliehen. Gründe dafür: Erstens, statt mit einem Panel mit Übertiteln, war der obere Teil des Saals mit völlig unnötigen Dingen ausgestattet, wie z.B. eine halbe Kuppel. Die trugen der Inszenierung nichts bei, und dazu war ohne Obertiteln die Musik sehr schwer zu folgen. Zweitens: unsere Plätze lagen genau am Bereich, wo verspätete Leute sich halt Stühle besorgen können und auch nach dem Anfang der Vorstellung sitzen. Ich brauche nicht zu sagen, dass natürlich wenigstens sechs Personen nach ca. 15 Minuten von Anfang dort so laut wie möglich kamen und dass sie dauerhaft miteinander sprachen, während auf der anderen Seite eine Dame ganz ruhig telefonierte. Dazu Gugkaev dirigierte wieder – auch wenn nicht so schlecht wie am vorigen Abend. Mein Genuss der Musik war trotz meinen besten Anstrengungen völlig verdorben….

10. März – Rimsky-Korsakow: Koschtschei der Unsterbliche – Mariinsky Konzertsaal
Wieder im locus delicti… Die Aufführung war diesmal völlig konzertant mit Obertiteln; unsere Plätze dazu sehr gut, so dass wir von den während der Musik wandelnden Kindern nur peripherisch gestört wurden. Nicht, dass diese kleine Oper von Rimsky besonders für Kinder geeignet ist… Vom Orchester bis zu den Solisten war die Qualität der Aufführung einfach superb. Man fragt sich, wie schaffen es hier die Künstler, jeden Tag solche phantastische Leistungen vor einem so uninteressierten Publikum auszugeben… Die Oper selbst zählt nicht zwischen den gelungensten Werken des Komponisten. Sie ist trotzdem sehr interessant, wunderschön instrumentiert (wie immer bei Rimsky), und gibt darüber hinaus den Eindruck, dass dieses 1901 entstandene Werk von anderen Komponisten doch gut bekannt worden sei. Man hört hier und da Vorahnungen vom Strawinskys Feuervogel und sogar eine Melodie, die später von Puccini in Turandot verarbeitet wurde. Komischerweise klang mir auch die Musikwelt von Schönberg nicht als allzu entfernt.

12. März – Prokofjew: Semjon Kotko – Mariinsky II
Diese leider unterschätzte Oper von Prokofjew wird derzeit außerhalb Russland so gut wie nie aufgeführt. Zur Zeit ihrer Uraufführung gab es in der Sowjetunion trotz des „sowjetischen“ Sujets ideologische Schwierigkeiten. Einerseits wurde im Juni 1939, kurz vor der Vollendung der Komposition der Oper, der vorgesehene Produzent und Regisseur Meyerhold, ein guter Freund von Prokofjew, festgenommen und wenige Monate später erschossen. Andererseits kam kurz nach der Vollendung der Oper der Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt zustande, so dass man auch im Libretto die „Feinde“ von Deutschen zu “unbestimmten” ändern sollte. Dazu war die Musik für die den Geschmack der Russischen Assoziation Proletarischer Musik viel zu avanciert. Nach der Uraufführung 1940 wurde die Oper 20 Jahre lang gar nicht mehr aufgeführt. Besonders interessant war es, Semjon Kotko so kurz nach Verlobung im Kloster hören zu können. Es war durch den Vergleich besonders klar, wie der Komponist in der folgenden Oper versucht hatte, auf einer viel mehr linearen und melodischen Weise zu komponieren – nur um unter der Anzeige von Formalismus zu fallen. Der formale Verlauf des Werkes zeigt auch einige Ähnlichkeiten mit Schrekers ebenso unterschätze Oper Der singende Teufel. So ist die Musik im 1. Akt eher spröde, um nach und nach komplizierter zu werden, bis zur riesigen Klangwelle des 3. Aktes, die fast wie ein Stück Minimal-Music klingt, bei dem verschiedene Schichte und Themen überlagert und neu kombiniert werden. Die Wirkung war echt gewältig!
Diesmal stand es sogar auf dem Saalprogramm geschrieben, dass Gergiev dirigieren sollen hätte. Statt ihm gab es aber wieder unseren Freund Smelkov – der allerdings sehr gut dirigiert hat. Die Inszenierung war ziemlich unklar und nicht wirklich gelungen, wirkte aber trotzdem besser als erwartet. Die Sänger und das Orchester waren super, wie immer.
(Im Bereich „störendes Publikum“ wurde aber am diesen Abend den Top erreicht. Der Sitznachbar kam mit seiner Frau ca. 20 Minuten nach dem Anfang der Oper und wollte zu seinem Platz, so dass wir sogar aufstehen mussten. Er wühlte danach wenigstens weitere 20 Minuten in seiner Tasche, holte so was wie 5 verschiedene Handys, irgendeine Salbe, die Brille usw., alles das schwitzend und schnaubend. Da ich meine Hustenbonbons auf dem Boden vor mir gelegt hatte, frug er mich laut, was das sei… Da er irgendein alter Militär war, haben wir es nicht gewagt, ihm etwas zu sagen, und haben wir uns bei der ersten Pause ruhigere Plätze gesucht. Das Theater kannten wir inzwischen gut genug, um zu wissen, wo wir am wenigsten gestört werden konnten – obwohl wir trotzdem einen Nachbar gekriegt haben, der während der Musik ständig mit seinem Freund reden sollte…).
