
Weniger ist manchmal mehr – und so kann selbst eine Oper mit einer so sinnlosen Dramaturgie wie Das Wunder der Heliane unglaublich stark wirken, wenn die Bühne vom allen Blendwerk befreit wird. Die Handlung der 1927 uraufgeführten Oper von Korngold gehört zu den absurdesten der Operngeschichte. Ein Fremder wird vom Herrscher eines Reiches eingekerkert, weil er von Liebe und Schönheit spricht. Der Herrscher selbst verurteilt ihn zum Tode, und die Lage des Fremden bessert sich nicht, als er kurz später vom Herrscher mit dessen (nackter!) Frau, Heliane, ertappt wird. Der wütende Herrscher ruft die Richter, um seine Frau wegen Untreue zu verurteilen. Als Heliane sich verteidigen will, spricht sie so leidenschaftlich, dass sie dadurch unwillkürlich ihre Liebe für den Fremden ausdrückt. Um sie von jeder Schuld zu lösen, tötet sich der Fremde vor ihr. Der Herrscher ist aber nicht zufrieden, und sagt zu seiner Frau: „Wenn du wirklich unschuldig bist, dann schaffst du es auch, das Gottesurteil zu bestehen und ihn auferstehen zu lassen“ (!) Sie sagt: „Ja, das mache ich“ (!!) und versucht wirklich am nächsten Tag, vor dem Volk, den Toten auferstehen zu lassen. Das gelingt ihr nicht, und endlich muss sie gestehen, dass sie doch nicht frei von Schuld ist, da sie den Fremden geliebt hat. In diesem Moment steht der Fremde wirklich von den Toten auf (!!!) und umarmt Heliane, die gleich danach vom Herrscher getötet wird. Der Herrscher wird vom Fremden weggejagt, und kurze Zeit später sind der Fremde und eine tote aber lebendige Heliane ganz allein anderswo und singen so etwas tristanisches wie „Nie mehr weckt uns Tag!“ Der Misserfolg dieses Werkes war 1927 brennend, und die etwas aus der Zeit gefallene Musik trug damals zum Flop bei. Seit 1928 bis heute erlebte diese Oper nur vier weitere szenische Produktionen und wurde darüber hinaus mehrmals konzertant aufgeführt. Der Musikstil von Das Wunder der Heliane stellt für den heutigen Geschmack kein Problem mehr dar; die Handlung ist aber nach wie vor problematisch. Dies war sehr gut bei der 2010/2012 Koproduktion Kaiserslautern/Brno nachzuerleben. Beim Versuch, diese Oper zu modernisieren aber sie gleichzeitig in ihrer Irrealität zu bewahren, scheiterte damals die Inszenierung des Regisseurs Johannes Reitmeier an der Anhäufung von Symbolen und Absurditäten, so dass die Veranstaltung schließlich lediglich eine Zwischenstufe zwischen langweilig und lächerlich erreichte.
Bei der Vlaamse Opera Antwerpen wurde hingegen ein perfektes Gleichgewicht zwischen allen Komponenten erreicht und dazu das Ganze mit einer solchen Energie abgerundet, dass man diese als die bisher gelungenste szenische Produktion dieser Oper der Nachkriegszeit bezeichnen darf. Eine Traumprotagonistin, ein total leidenschaftlicher und gleichzeitig formal strenger Dirigent und ein Regisseur (David Bösch), der direkt zum Kern der Handlung vorgedrungen ist – was könnte man sich mehr wünschen?
Ausrine Stundyte als Heliane war absolut bravourös. Sobald sie auf der Bühne erschien, magnetisierte sie völlig die Szene. Ihre Stimme füllte den ganzen Zuschauerraum, ihre Interpretation war hinreißend. Sie bewegte sich auf der Bühne wie in ihrem Element und stellte eine junge und fast naive Heliane dar, die in ihrer spontanen Leidenschaft so unschuldig wie ihr weißes Kleid aussah. Als man glaubte, dass sie in ihrer passionierten Arie im 2. Akt schon alles gegeben hätte, schaffte sie es sich im 3. Akt noch zu übertreffen. Unglaublich. Es ist für mich eine immense Feude, sie bald zweimal in Berlin erleben zu dürfen: in Die Gezeichneten und dazu auch in Salome!
Tómas Tomasson verkörperte genauso einen Herrscher, wie man sich diese Figur aus der Partitur vorstellen kann, aber wie sie bisher in keiner der verfügbaren Einspielungen bzw. der neuen Produktionen zu finden gab. Kein eintöniger Böser, der starr und gefühllos für die ganze Länge der Oper bleibt, sondern ein viel komplexer Mensch, der in einer apokalyptischen Wüste die Macht erreicht hat und nur das versteht, was unbedingt praktisch und irdisch ist – und alles fürchtet, was außerhalb seiner Macht liegt. Seine Furcht bringt ihn zu tyrannischen Entscheidungen (vgl. Herodes); seine äußere Gerechtigkeit, sogar auf Richter gestützt, wird am Ende als reine, menschliche Wut entlarvt. Tomasson konnte alle Färbungen der Zerrissenheit und der verdeckten Verzweiflung dieser undankbaren Rolle klar ausdrücken und sie dazu auch szenisch wiedergeben. Ein echtes Bravo!
Die statuarische Größe von Ian Storey entsprach vielleicht der Vorstellung eines schönen Jungen nicht perfekt; aber genau seine Monumentale Präsenz verlieh überraschenderweise im Finale den Schlüssel der Handlung. Er, der in den ersten zwei Akten nur als Opfer auftrat und meistens still und bewegungslos auf der Bühne blieb, erschien bei seiner Auferstehung plötzlich mächtig und im vollen Licht. Der Eindruck dieser Szene war so gewaltig, dass auf einmal die Handlung dieser Oper sich als völlig sinnvoll offenbarte. Darüber hinaus konnte der Tenor seine harte, steile Rolle ganz problemlos meistern ohne je monoton zu werden – was auch eine Leistung ist.
Auch die anderen Rollen waren sehr gut besetzt: Besonders erwähnungswert sind der scharfe Schwertrichter Denzil Delaere und der mitleidende Pförtner Markus Suihkonen, beide Mitglieder des Jungen Ensembles der Opera Vlaandern. Ein bisschen enttäuschend vielleicht nur Natascha Petrinsky als Botin: Sie ist zwar eine gute Sängerin, aber ihre Stimme war nicht groß genug für eine solche Orchesterbesetzung.

Der Dirigent Alexander Joel gehört zu den seltenen Dirigenten, die sich nicht nur um eine korrekte bzw. leidenschaftliche Wiedergabe der Partitur kümmern, sondern die ganze Form beachten und einzelne Teile mehr oder weniger hervorzuheben bzw. zu unterdrücken wissen, um eine Gesamtwirkung zu erreichen. Auf eine Dauer von fast drei Stunden ist das ein echtes Kunststück! Aber dies ist besonders im Fall dieser Oper absolut notwendig. Korngold war äußerst verschwenderisch an Orchestereffekten, schönen Melodien und Fortissimo-Stellen, so dass auch die kürzeste seiner Opern schließlich etwas monoton klingen könnte, wenn der Dirigent die gesamte Struktur nicht im Auge behalten würde. In Das Wunder der Heliane wäre es z. B. sehr leicht, der Versuchung nachzugeben, mit einem Knall die Zuhörer gleich am Anfang auffahren zu lassen: Schließlich gibt es schon in den ersten drei Minuten Vollorchester-Akkorde mit Becken, Orgel, Chören aus der Ferne usw. Der Nachteil aber wäre, dass die folgenden 25 Minuten nur einen Abstieg im Vergleich bieten könnten, und sowohl die Pförtnerszene als auch die darauffolgende Herrscherszene vergeudet würden. In Antwerpen war es aber endlich anders: Der Anfang war gar nicht gleich Fortissimo, und das hatte auch seine Logik. Was dort erkling ist noch keine Erfüllung, sondern nur eine entfernte Verheißung. Bei dieser Produktion wurde es dazu deutlich, dass diese Verheißung selbst im Finale nicht verwirklicht wird. Diese Musik aus „anderswo“ bleibt von der Welt entfernt. Wenn sie nach den ersten Minuten des 1. Aktes langsam auf die Erde absteigt, verwickelt sie sich zunächst in der begrenzten Melodik des Pförtners bzw. in den dunklen Tönen des Herrschers und geht dabei nahezu verloren. Erst die Erscheinung von Heliane erweckt sie wieder. Diese Licht-Musik wird immer leidenschaftlicher, muss aber gegen drei Gegner kämpfen. Der erste Feind sind die Leute, die das Licht nicht begreifen können: den Herrscher, die Botin, die Richter. Die Musik der Selbstverteidigung-Arie von Heliane kommt aber so überwältigend, dass sie die Starrheit der vorigen Szenen quasi auslöscht. Normalerweise ist diese Arie DER Höhepunkt der Oper; bei dieser Produktion wurde sie aber (wie sicher auch vom Komponisten geplant) von den mächtigen Chorszenen im 3. Akt noch übertroffen, als die Musik immer spannender und dissonanter wird. Und an Dissonanzen hat der Dirigent gar nicht gespart, muss man hinzufügen. Der zweite Kampf ist gegen die unausgesprochenen Selbstschuldgefühle der Heliane, die, von allen isoliert, etwas beweisen muss, dass sie nicht beweisen kann. Als ihr Liebesgeständnis endlich strömt, befreit sich nochmals die Musik und erreicht mit der Auferstehung des Fremden den eigentlichen Höhepunkt der Oper. Aber ein letzter Feind bleibt noch: der Tod selbst. Heliane stirbt; der Herrscher verschwindet in seiner Dunkelheit; die ganze Welt bleibt zurück, und ganz fern, anderswo, klingt die Verheißung nochmals. Selbst wenn das Orchester nicht immer präzis war, war die ganze Musikarchitektur des Werkes deutlich wahrzunehmen, sowie alle Kontraste zwischen melodischem Fluss und Starrheit, Farbe und Eintönigkeit, Licht und Schatten. Ein bravo an allen Beteiligten!
Die gesamte Wirkung wäre ohne die Inszenierung von David Bösch nur halb so gut gewesen. Bösch hat die Bühne von allem befreit, was nicht strikt nötig war. Es gab weder Zellen noch Schlösser noch Kirchen. Die ganze Handlung spielte in einer postmodernen Wüste, mit rostigen Resten einer Zivilisierung: das Skelett eines großen Plakats, eine Blechtonne, ein Caravan. Die Bühnenbilder waren aber nicht etwa zufällig gewählt. Die Wüste steht symbolisch als idealer Ort für eine Offenbarung, nachdem man alles schon verloren hat. Dementsprechend wurde im 3. Akt der Oper auch die Beziehung mit einem anderen Volk (das Moses-Volk) wahrnehmbar, das auch in der Wüste verloren und auf der Suche nach einem Glaube war. Es entstand so eine bisher nicht gesehene Verwandtschaft mit Schönbergs Moses und Aron. Die Arbeit des Regisseurs war sehr minuziös. Die gesamten Bewegungen aller Figuren auf der Bühne wurden so berechnet, dass bei jedem Akt die Wirkung einer Steigerung geschafft wurde. Einzelne Gebärden konnten auf dieser Weise präzise Momente sehr stark untermalen. Bei der Auferstehungsszene brauchte der Regisseur nur die Spotlights plötzlich auf den Zuschauerraum zu richten, um die mächtigste Szene der ganzen Oper zu schaffen. Die Konzentrierung auf die Personenregie brachte aber auf der Bühne lebendige Leute, die sich realistisch bewegten und die ganz verständliche Leidenschaften ausdrückten. Es wurde deutlich, dass die Liebe, die in Das Wunder der Heliane als heilig genannt wird und zum Wunder führt, gar nicht rein und abstrakt ist, sondern leidenschaftlich und körperlich. Anders als Schreker, scheut sich aber Korngold in der letzten Minute vor dem vollständigen Umkippen des Geistlichen in das Körperliche und kehrt zurück, hier wie in seinen anderen Opern, zum rein Geistlichen – und die Inszenierung von Bösch konnte genau diesen inneren Widerspruch des Werkes ausdrücken. Die symbolistische Seite ging aber auch nicht verloren, so dass jede Figur mehrdeutig gezeigt und die Geschichte, die auf der Bühne erzählt wurde, viele Ähnlichkeiten mit dem Evangelium zeigte und zugleich als Darstellung durch archetypische Prozesse entschlüsselt werden konnte.

David Bösch inszeniert in Dezember eine weitere Oper von Korngold, Die tote Stadt, in Dresden. Das ist auf keinen Fall zu verpassen!
